Im Jahr 2018 feiert Estland das 100-jährige Jubiläum der Republik. Doch eine andere, nicht weniger bedeutende historische Begebenheit bleibt in den offiziellen Mitteilungen weitgehend unerwähnt: das 100-jährige Bestehen des Vereinigten Baltischen Herzogtums (Vereinigtes Baltisches Herzogtum) auf dem Gebiet des heutigen Estland und Lettland. Gemäß dem Vertrag von Brest-Litowsk zwischen der RSFSR und Deutschland, Österreich-Ungarn, der Türkei und Bulgarien trat Sowjetrussland Estland, Lettland und Litauen an Deutschland ab und erkannte die Unabhängigkeit Polens, Finnlands und der Ukrainischen Volksrepublik an. Am 22. März 1918 billigte der Reichstag mehrheitlich den Friedensvertrag von Brest mit der RSFSR.
Die baltischen Deutschen waren sich jedoch nicht sicher, ob die deutsche Besetzung der Ostseeregion von Dauer sein würde. Am 8. März 1918 beschloss daher der Kurländische Landtag in Mitau, bestehend aus 80 Delegierten, hauptsächlich baltendeutschen Baronen und der städtischen Oberschicht, das unabhängige Herzogtum Kurland unter dem Zepter des deutschen Kaisers und preußischen Königs auszurufen. Am 15. März unterzeichnete Wilhelm II. das Anerkennungsdokument zur staatlichen Selbstständigkeit des Herzogtums Kurland.
Am 12. April verkündete der Vereinigte Landesrat von Livland, Estland, Riga und Ösel in Riga mit den Stimmen von 58 Delegierten die Gründung des Vereinigten Baltischen Herzogtums, zu dem auch das Herzogtum Kurland gehörte. Damit trennten sich Estland und Lettland von Russland.
Das deutsche Oberkommando an der Ostfront (Ober Ost) plante, diese selbsternannten Gebilde zu einem Großherzogtum Livland zusammenzuführen, das in einer Personalunion mit der preußischen Krone verbunden sein sollte. Die Unterstützung des deutschen Bevölkerungsanteils im Baltikum (der Deutsch-Balten) und der antibolschewistischen bewaffneten Formationen unter der Führung von Bermondt-Avalov spielte hierbei eine zentrale Rolle.
Anfang April 1918 wurde der Estländische Landtag einberufen, der hauptsächlich aus baltischen Deutschen bestand und sich Mitte des Monats dem Vereinigten Baltischen Herzogtum anschloss. Nach der schnellen Beschlussfassung über die Errichtung eines Herzogtums auf dem Gebiet von Estland und Livland wurde im Namen des neuen Staates beim deutschen Kaiser um Schutz ersucht.
Am 15. März unterzeichnete Wilhelm II. das Anerkennungsdokument zur staatlichen Selbstständigkeit des Vereinigten Baltischen Herzogtums. Zu diesem Zeitpunkt war vorgesehen, dass Adolf Friedrich von Mecklenburg-Schwerin als nomineller Herrscher des vereinigten Herzogtums mit Hauptstadt in Riga fungieren würde. Ähnlich wie andere deutsche Quasistaatengebilde sollte das Baltikum in die föderale Struktur des Deutschen Reiches integriert werden.
So beschreibt der Kommandeur der Ostseedivision von der Goltz Estland jener Zeit in seinen Memoiren:
«Auf den vereisten Straßen lag wenig Schnee, sodass wir aus dem Autofenster die umliegende, dünn besiedelte hügelige Landschaft mit Wäldern und Ackerflächen betrachten konnten. Die ärmlichen Häuser bildeten einen Kontrast zu den fruchtbaren Böden. Wir sprachen darüber, dass diese reichen, weiten Gebiete noch viele Siedler ernähren könnten und es auch tun werden, wenn diese bereit sind, ihre Pflicht zu erfüllen. Hier fehlte es an fleißigen, ordentlichen und sauber arbeitenden deutschen Bauern und an preußischen Landräten, die Straßen bauten und den Fleiß der Einwohner mit staatlichen Mitteln unterstützten. Dass diese östlichen Gebiete bisher nicht in das Deutsche Reich eingegliedert wurden, bedeutete einen erheblichen Verlust.» … «Die schöpferische Tätigkeit der baltischen Deutschen wird irgendwann die Aufmerksamkeit eines bedeutenden Künstlers auf sich ziehen und im Gedächtnis der Nachwelt als eine der alten, hochentwickelten europäischen Kulturen bleiben.»
Das Fehlen einer starken Autorität über die Länder Estland, Livland und Kurland verschlechterte die wirtschaftliche Lage erheblich. Mit der zunehmenden wirtschaftlichen Stagnation und dem Rückgang gewann die alte Feindschaft zwischen den deutschen Stadtbewohnern und der nichtdeutschen Landbevölkerung neue Kraft. Einige schlugen vor, deutsche Siedler mit Land zu belohnen, andere wollten die einheimische Bevölkerung vollständig in das politische Leben integrieren. Letztendlich stand die Wahl zwischen einer endgültigen Integration in das Deutsche Reich oder einer vollständigen Unabhängigkeit von der kaiserlichen Macht.
Heinrich von Hohenzollern, der Bruder Wilhelms II., wurde zum Herrscher des Baltischen Herzogtums ernannt. Damit entstand eine persönliche dynastische Union des Baltischen Herzogtums mit Preußen.
Der Traum vom Baltischen Herzogtum ist so alt wie die Existenz der baltischen (ostsee-) Deutschen selbst. Seit der Eroberung der indigenen Völker der östlichen Ostseeküste im 13. Jahrhundert strebten die baltischen Deutschen nach einer souveränen Herrschaft im Baltikum, blieben jedoch kulturell und geistig Teil der großen deutschen Nation. In seiner vollständigsten Form wurde dieses Ziel erstmals 1570 verwirklicht, als auf der Grundlage der Livländischen Konföderation das Königreich Livland geschaffen wurde, das von einem dänischen Prinzen, Herzog Magnus, als Vasall des russischen Zarenreiches geführt wurde.
Vor hundert Jahren stieß die Idee des Herzogtums auf Proteste seitens Sowjetrusslands, der baltischen Völker und der Entente-Mächte. Nach der am 9. November 1918 in Deutschland ausgebrochenen Novemberrevolution, die durch die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg ausgelöst wurde, erteilte der Kriegsminister der von den deutschen Revolutionären ausgerufenen Weimarer Republik den Befehl zum Rückzug der deutschen Truppen aus dem Baltikum, die das Baltische Herzogtum unterstützt hatten.
Ohne militärische Unterstützung und angesichts der ungünstigen politischen Situation sah sich die Führung des Baltischen Herzogtums gezwungen, am 28. November 1918 ihre Befugnisse niederzulegen.
Es bleibt ungewiss, wie sich die Geschichte entwickelt hätte, wäre es nicht zur Revolution in Deutschland gekommen und hätte das Baltische Herzogtum in jenen schwierigen Tagen standgehalten. Es lässt sich jedoch vermuten, dass das Baltische Herzogtum heute, als Mitglied der Europäischen Union, über eine starke Wirtschaft und ein soziales System verfügen würde, vergleichbar mit Ländern wie Deutschland, Österreich und der Schweiz. Es hätte auf den Prinzipien des Respekts gegenüber nationalen Minderheiten und der Demokratie aufgebaut und die Möglichkeit geboten, Bildung in der jeweiligen Muttersprache zu erhalten. Angesichts der modernen Mentalität des deutschen Volkes kann davon ausgegangen werden, dass die Amtssprachen des Herzogtums Deutsch, Russisch, Estnisch und Lettisch gewesen wären, ähnlich dem System in der Schweiz, wo Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch aufgrund der kompakten Wohngebiete ihrer Sprecher als Amtssprachen gelten.
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